In einem Alter, in dem wir Menschen schon lange unseren wohlverdienten Ruhestand genießen, wurde der Musikverein Seelbach erst „volljährig“, nämlich mit 74 Jahren. Von der Gründung an als Feuerwehrkapelle arbeitete die Musikkapelle zwar recht selbständig, rechtlich war sie jedoch kein eigenständiger Verein. Nicht einmal ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen Verlauf auch das Vereinsleben in Seelbach völlig zum Erliegen gekommen war, trafen sich die ersten Musikbegeisterten wieder, um einen Neuanfang zu machen. Im Protokollbuch ist unter dem Datum vom 7. Februar 1946 vermerkt: „Abends in der Halle unter der Theaterbühne erste Zusammenkunft der neuen Musikkapelle mit Altbürgermeister Th. Simon und 15 Mann“.
Bereits knapp eine Woche später, am 13. Februar, begann man mit den Proben. Symbolisch, nicht nur für die Musikkapelle, könnte man den Anlass für den ersten Auftritt überhaupt nennen: am 20. April bei der Auferstehungsfeier in der Kirche.
Dass die damaligen Verantwortlichen unter Musikverein mehr als nur einen Blasmusikverein verstanden haben, zeigt ein weiterer Eintrag im Protokollbuch vom 17. Mai 1946. Da heißt es: „Anfang mit den Proben der Streicher“. Wie lange das Streicherensemble Bestand hatte, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Bei der Gründung des „Musik- und Instrumentalvereins Seelbach“ am 29. September 1946 jedenfalls spielte das Streichorchester und die Blasmusik. Die Geburtsstunde der Musikkapelle Seelbach schlug am 25. Juni 1872.
Die Verantwortlichen in der erst wenige Wochen zuvor gegründeten Freiwilligen Feuerwehr Seelbach waren der Auffassung, dass zu einer „richtigen“ Feuerwehr auch ein Musikkorps gehört. Elf Männer bildeten damals das Musikkorps.Sie mussten einen Jahresbeitrag von acht Gulden bezahlen, der ausschließlich für die Belange des Musikkorps verwendet wurde.
Wie bereits erwähnt, war das Feuerwehrmusikkorps eine weitgehend eigenständige Einrichtung mit einem Verwaltungsrat, Vorsitzender jedoch war der jeweilige Kommandant der Feuerwehr.
Die Geschichte eines Vereins ist in erster Linie die Geschichte der Personen, die seine Geschicke lenkten und lenken. Wir wissen bereits, dass der Kommandant der Feuerwehr jeweils auch Vorsitzender des Musikvereins war.
In den spärlichen Unterlagen taucht nach der Widergründung der Musikkapelle nach dem Ersten Weltkrieg am 20. Oktober 1920 für die Jahre 1924 und 1925 Emil Krämer als Erster Vorsitzender des Musikvereins auf. Ein Widerspruch also zu der Feststellung, dass es erst seit 1946 einen eigenständigen Musikverein in Seelbach gibt?
Ja und nein. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gab es einen Wechsel zwischen Eigenständigkeit und Zugehörigkeit zur Feuerwehr. So erscheint es durchaus legitim, als Gründungsdatum des selbständigen „Musik- und Instrumentalvereins“ den 29. September 1946 zu nehmen.
Von da an lässt sich auch erst verfolgen, wer an der Spitze des Musikvereins stand. In der Gründungsversammlung wurde Dr. Koch zum Vorsitzenden gewählt, der dieses Amt jedoch nur wenige Monate bekleidete. Bereits im Februar 1947 wurde Josef Edte Vorsitzender. Ihm folgte von 1950 bis 1953 Franz Bohnert nach.
Zwölf Jahre, von 1953 bis 1965, hieß der Vorsitzende Hermann Sandhaas. Danach rückte der langjährige zweite Vorsitzende an die Spitze des Musikvereins. Als Theodor Weber 1970 im Alter von knapp 48 Jahren starb, führte der stellvertretende Vorsitzende Hubert Fehrenbach bis zur Hauptversammlung 1971 den Verein. In dieser Hauptversammlung wählten die Mitglieder Albert Gündner zum neuen Vorsitzenden. Acht Jahre hatte er dieses Amt inne. Nachfolger wurde im Jahr 1979 Walter Roth. Er war 16 Jahre Vorsitzender und wurde für seine Verdienste um den Verein zum Ehrenvorsitzenden ernannt. 1995 wurde Wolfgang Mech 1. Vorsitzender bis er im Jahre 2001 das Amt an Dieter Faißt übergab.
Repräsentanten eines Musikvereins nach Außen sind natürlich die Aktiven und die Dirigenten. In den Anfangsjahren gleich nach der Gründung hat nach mündlicher Überlieferung ein Hauptlehrer Jung die Musikkapelle dirigiert. Theodor Simon senior war musikalischer Leiter bis etwa um die Jahrhundertwende und danach bis zu seiner Wahl zum Bürgermeister Theodor Simon junior. Sein Nachfolger wurde 1923 Franz Munz. Vier Jahre, von 1933 bis 1937 hieß der Dirigent Heinrich Göttling und dann bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der auch das vorläufige Ende der musikalischen Aktivitäten bedeutete, Anton Ludihuser. Zu ihm eine kleine Anekdote. In den recht spärlichen Unterlagen, die im Gemeindearchiv zu finden sind, ist auch ein Brief, in dem die Gemeinde gebeten wird, Ludihuser doch endlich seine Aufwandsentschädigung zu bezahlen, da er bereits neun Monate Dirigent ist und immer noch kein Geld bekommen hat. Ebbe auch damals schon in der Gemeindekasse?
Nach der Widergründung übernahm im November 1946 Ernst Wacker den Taktstock und leitete die Kapelle in der schwierigen Aufbauphase bis 1950. Danach hieß der Dirigent bis Dezember 1954 Ernst Wendling. 1955 kam dann Fritz Ehret aus Reichenbach als Dirigent zum Musikverein Seelbach. Er leistete eine erfolgreiche Aufbauarbeit und brachte die Musikkapelle Seelbach musikalisch weit nach vorne. Als er Ende 1965 schwer erkrankte übernahm Gerhard Geng zunächst aushilfsweise den Taktstock. Nach dem Tod von Fritz Ehret wurde er offiziell Dirigent der Musikkapelle Seelbach.
Ohne die Leistung eines der Dirigenten bis dahin schmälern zu wollen, ist festzustellen, dass die Zeit unter dem musikalischen Leiter Gerhard Geng von 1966 bis 1982 die Blütezeit der Musikkapelle Seelbach war. Die Übernahme der musikalischen Leitung durch Gerhard Geng fiel in eine Zeit des Umbruchs und des sich verstärkt für die Jugend Öffnens der Musikkapellen. Das Repertoire veränderte sich allmählich. Immer mehr Titel aus der modernen Musik hielten Einzug. Dies bedingte auch, dass neue Instrumentengruppen in die Musikkapellen eingebaut wurden, beispielsweise Saxophone und Rhythmusinstrumente. Auch der Einsatz der Elektronik wurde selbstverständlich, seien es Elektrogitarren oder Verstärkeranlagen. Das Bild der Blasmusik änderte sich in diesen Jahren enorm. Sie bekam ein neues Image und einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft. Das wichtigste jedoch war: Durch die Öffnung hin zur modernen Musik wurde die Blasmusik plötzlich auch interessant für die Jugend.
Blasmusik war plötzlich in. Auch der Musikverein Seelbach nutzte diesen Boom. Innerhalb von wenigen Jahren änderte sich das Bild der Musikkapelle grundlegend. Einmal war diese Veränderung bereits äußerlich festzustellen. Die Zahl der Musiker und – das war etwas Besonderes in der damaligen Zeit – Musikerinnen wuchs, die Aktiven wurden immer jünger. Noch wichtiger als diese quantitative Veränderung war die qualitative. Eine umfassende musikalische Grundausbildung war Voraussetzung, um in der Kapelle mitspielen zu können. Und gerade auf die Vermittlung dieser Grundlagen legte Gerhard Geng besonderen Wert. Etlichen Jugendlichen war diese „Tortur“ zuviel, sie warfen noch während der Ausbildung das Handtuch. Wie viele es in den zurückliegenden drei Jahrzehnten waren, die im Musikverein Seelbach ausgebildet wurden, lässt sich nicht exakt feststellen. Die Zahl von 200 dürfte jedoch nicht zu hoch gegriffen sein.
Ziel Gerhard Gengs war es, eine in allen Registern gleichmäßig besetzte Kapelle zu schaffen, die Voraussetzung, das Repertoire zu erweitern und neue musikalische Stilrichtungen aufzunehmen. Welche Arbeit dahinter steckte, können im ganzen Ausmaß nur die ermessen, die diesen Weg mitgegangen sind sei es als Aktive oder als Mitglieder im Vorstand. Letztere mussten nämlich die finanziellen Grundlagen schaffen für den Ausbau der Musikkapelle. Denn jedes neue Mitglied bedeutete auch, dass ein neues Instrument beschafft werden musste. Und wenn sich die Zahl der Aktiven innerhalb weniger Jahre nahezu verdoppelte, so lässt sich erahnen, welcher finanzielle Aufwand dahinter steckte. Doch nicht nur die Zahl der Aktiven wuchs stetig, sondern auch die Qualität dessen, was sie musikalisch boten. Innerhalb weniger Jahre wurde die Musikkapelle Seelbach zu einem gefragten Orchester, das in der näheren und weiteren Umgebung die Blasmusikfreunde begeisterte. Höhepunkt der Ära Geng war die Aufnahme einer Langspielplatte im Jahr 1979, die auch heute noch ein Dokument dieser Blütezeit ist.
Als Gerhard Geng 1982 den Taktstock niederlegte, bedeutete dies eine Zäsur. Einige hervorragende Musiker waren bereits nicht mehr dabei. Sie hatten sich teils zum Dirigenten ausbilden lassen und selbst die Leitung von Kapellen übernommen oder sich in anderen Musikformationen engagiert. Wieder andere beendeten ihre aktive Zeit in der Musikkapelle. Die Voraussetzungen für Gengs Nachfolger Gerold Eichhorn waren deshalb nicht gerade die besten. Dennoch machte er sich mit großem Engagement an die schwere Aufgabe.Wusste er doch, dass er sich an seinem Vorgänger und Lehrmeister messen lassen musste.
Als Gerold Eichhorn 1987 aufhörte, wurde Wilhelm Müller, ebenfalls ein Geng-Schüler, sein Nachfolger. Er leitete die Musikkapelle bis im Frühjahr 1995. Nach seinem Rücktritt übernahm Helmut Walter für ein Jahr interimistisch den Taktstock. Auch Müller war es nicht gelungen, die schleichende Auszehrung zu stoppen. Woran das lag. Sicherlich nicht an den musikalischen Qualitäten Eichhorns und Müllers. Wohl eher daran, dass wie im „richtigen“ Leben auch im Vereinsleben Phasen des Hochs Abschnitte der Stagnation oder gar des Rückgangs folgen.
In der Hauptversammlung 1996 stellte sich Klaus Schell als neuer musikalischer Leiter der Musikkapelle Seelbach vor, die inzwischen auf unter 50 Aktive geschrumpft ist. Der studierte Posaunist stand 2 Jahre lang am Dirigentenpult.
Nach dem 125-jährigen Jubiläum übernahm Ralf Schuber 1998 die musikalische Leitung des 35 Musiker zählenden Orchesters. Den Dirigentenlehrgang, den er gleich darauf besuchte, schloss er als bester Teilnehmer ab. Größten Augenmerk legte Schuber zunächst auf die Jugendausbildung. Hier galt es einiges aufzuholen. Durch sein großes Engagement fanden sich dann auch etliche Jugendliche, die ein Instrument erlernen wollten. Kurze Zeit später stand einem lang gehegten Wunsch nichts mehr im Wege: Die Gründung einer eigenen Jugendkapelle. Ihr Können sollte sie bald bei zahlreichen Auftritten unter Beweis stellen. Durch regelmäßige Jungmusikerwerbung wurde die Zahl der Auszubildenden ständig erhöht. Seit Juni 2002 wird sogar eine musikalische Früherziehung angeboten, bei der bereits die Kleinsten schon den Weg zur Musik finden können. Somit wurde wieder ein stetiger Ausbau der Kapelle möglich. Die ersten Erfolge zeigten sich schon nach kurzer Zeit. Die Zahl der Musiker stieg wieder, früher ausgetretene Musiker kamen zurück. Nun galt es, die Leistung der Kapelle weiter zu steigern. Mit Ralf Schuber am Dirigentenpult und dem Einsatz eines jeden Musikers ging das Konzept auf.
Leider kam dann im Jahr 2006 die bittere Nachricht: Ralf Schuber musste durch den Wechsel seines Arbeitgebers, bei dem er nun oft wochenlang auf Montage im Ausland tätig ist, den Taktstock niederlegen.
So hatte der Vorstand des Musikvereins Anfang 2006 wieder die schwierige Aufgabe, in relativ kurzer Zeit einen geeigneten Nachfolger zu finden. Bei fünf sehr guten Bewerbern war es keine leichte Entscheidung. Schließlich fiel die Wahl der aktiven Musiker und des Vorstandes auf Christian Sade, ein bis dahin in unserer Gegend noch recht unbekannter Vollblutmusiker aus Berlin kommend. Geboren in Angers in Westfrankreich hatte er Trompete und Komposition studiert, ist Multiinstrumentalist und war zuletzt in Berlin an verschiedenen Bühnen als Musiker, Dirigent oder Komponist beschäftigt. Außerdem ist er ein eingefleischter Jazzmusiker. Durch sein musikalisches Können und seine vielen neuen Ideen konnte er genau da weitermachen, wo Ralf Schuber aufgehört hatte.
Dabei ging er völlig neue Wege: Anstelle des traditionellen Frühjahrskonzertes arrangierte er jeweils aufwändig ein „Bläsical“, eine Wortschöpfung Sades. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Theater und Blasmusik, bei der die Moderation der Musikstücke im szenischen Spiel erfolgt. Für die Musiker eine Herausforderung: Hatten sie bis dahin „nur“ die auf dem Programm stehenden Stücke beherrschen müssen, kam nun noch Bühnenmusik in den Pausen zwischen den Stücken dazu. Nicht nur einmal gab es dann schnell vor dem Konzert nochmals neue Noten dafür. Zusätzlich waren die Musiker mit Kulissenbau beschäftigt, z.B. die einschwebende Raumkapsel („Vom Prinzen und vom Wolf“, 2009). Als Gesamtkunstwerk zieht das Bläsical den Zuschauer auf mehreren Ebenen in seinen Bann, was damit auch den Konzertgästen einiges mehr abverlangt. Seit dem ersten Bläsical „Raumschiff Schutterprise“ (2007) unterscheiden sich damit die Seelbacher Jahreskonzerte deutlich von den Blasmusikkonzerten in der Region. Das Bläsical „Planet Baden“ wurde als Benefizkonzert mit organisatorischer Unterstützung der Freiwilligen Feuerwehr ein zweites Mal aufgeführt. „s´Bucklig Männli“ fand gar im Stadttheater von Ypern bei der Konzertreise 2013 nach Westflandern als „Cobold in Concert“ auf Flämisch eine gelungene Wiederholung.
Eine weitere Neuerung waren die Seelbacher Jazznächte, die in den ersten drei Jahren mit hochkarätiger Besetzung unter Sades Beteiligung und Regie veranstaltet wurden. Insgesamt weitete sich unter Christian Sade das Repertoire des Orchesters nochmals beträchtlich. Dazu trugen auch die von ihm in seinem eigenen Stil arrangierten oder komponierten Werke bei. Aufgrund seiner sprudelnden künstlerischen Energie werden auch in Zukunft noch viele Überraschungen zu erwarten sein.